Gastbeiträge

Geraubte Unschuld- Missbrauch hat ein Gesicht

Einen Gastbeitrag schreiben. Das hab ich mir am Anfang gar nicht so schwer vorgestellt. Bis ich mir Gedanken darüber gemacht habe. Vor allem weil es um ein sensibles und sehr persönliches Thema geht. Der sexuelle Missbrauch an mir in meiner Kindheit. Bitte versteht, dass ich nicht drumherum reden werde. Die Geschichte, der Anfang und die Erkenntnis, dass es wohl nie ein richtiges Ende dafür gibt.

 

Der Missbrauch

Es begann als ich 6 Jahre war

Als Kind bekam ich das gar nicht so mit, war mir nicht bewusst welche Berührungen nicht sein dürfen. Hier mal eine Hand im Schritt, da mal eine „Kuscheleinheit“ nackt. Es waren Andeutungen, leise und versteckt. Es war der damalige Partner meiner Mutter. Es folgten Nächte in denen er in mein Zimmer kam, sich zu mir legte und meine Hand an seinem Schritt rieb. Es wurden mit den folgenden Nächten immer mehr Berührungen, immer mehr Forderungen. Und ich sagte nie „nein“.

Ich hatte das Urvertrauen eines Kindes. Ich kann mich erinnern, dass ich in einigen Nächten sogar Benjamin Blümchen auf meinem Walkman hörte, während er sich neben mir zu schaffen machte.

So zog sich das ein paar Monate. Alles war für mich okay, bis zu einem Nachmittag im Sommer. Ich kam von der Schule heim und war meistens für ein paar Stunden alleine, bis meine Brüder kamen. An diesem Nachmittag war er auch da. Und er nutzte die Gunst der Stunde aus, zog mich aus und legte mich in sein Bett.

Ich weinte, weil sich das nicht richtig anfühlte. „Du musst die Pflichten deiner Mutter übernehmen wenn sie nicht da ist.“, tönte er in mein Ohr und drang dann gewaltsam in mich ein. Das war das erste Mal von vielen. Danach sollte ich mich waschen und er entsorgte die Bettwäsche, sie hatte sich vollgesogen mit meiner Kindheit und Blut.

Am nächsten Morgen stand ich auf, er schmierte mir meine Schulbrote und als ich am Nachmittag nach Hause kam, erwartete mich ein ähnlicher Ablauf.

Monatelang.

 

Niemand hilft

Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt selber in psychatrischer Behandlung außerhalb. Meine Geschwister und ich waren also alleine. Und meine Brüder sind selber kaum älter als ich. Rückblickend denke ich, dass es Menschen in meinem Umfeld wussten. Aber niemand wollte es wirklich wissen.

Es gab Warnsignale. Ich wurde aggressiv sobald man mich berührte, schlug mich oft in der Schule und war manchmal tagelang lethargisch. Ich wusch mich oft. Manchmal duschte ich mehrmals am Tag. Ich wusste nicht, was nicht stimmte. Schließlich sagte man mir, es sei alles in Ordnung.

Und als Kind zwischen dem eigenen Gefühl und dem, was Erwachsene befehlen zu unterscheiden, ist nicht leicht.

Der Missbrauch hielt über ein Jahr an. Als meine Mutter zurück kam, trennte sie sich und wir zogen um. Das war der Ausbruch aus diesem Kreis, könnte man jetzt denken. Aber es wurde nicht besser. Ich duschte immer noch mehrmals täglich, hatte Alpträume und wurde immer schlechter in der Schule. Es war ein Geheimnis, welches sich ein riesen Loch in meinen Bauch fraß. Jahrelang lebte ich damit.

Als ich 12 war, vertraute ich mich das erste Mal jemandem an. Nach einer schlaflosen Nacht und aufgeriebenen Stellen durch das duschen, erzählte ich es meinem Trainer. Und er meinte, ich solle ruhig sagen wenn ich keine Lust mehr auf das Training hätte und mir deswegen keine Geschichten ausdenken. Mir wurde nicht geglaubt. Also behielt ich es weiterhin für mich.

Mit 12 hatte jemand die Möglichkeit mein Leben zu verbessern. Und er glaubte mir nicht.

 

Verdrängung

Ich beschloss es zu ignorieren. So zu tun als wäre das alles niemals passiert. Wenn ich daran dachte, dann war es wie Fern zu sehen. Eine schlechte Soap, Schauspieler, Skript. Oft funktionierte das. Doch mein Verhalten blieb, die Aggression, Lethargie und hinzu kamen schwere Depressionen.

Als ich meinen zukünftigen Mann kennen lernte war ich panisch. Ich wollte ihm erklären warum manche Nächte so waren wie sie eben waren und warum ich Nachtangst hatte. Also erzählte ich es ihm. Und er glaubte mir. Kein Zweifel, keine Fragen. Er nahm es so hin. Und ich fing an darüber zu sprechen. Nicht mit ihm. Aber ich ging zur Therapie. Die ersten Stunden weinte ich, irgendwann fing ich an zu sprechen.

Vor drei Jahren zu Weihnachten, saß ich mit meiner Mutter im Wohnzimmer und wir unterhielten uns bei Glühwein über damalige Zeiten. Sie wusste, dass wir hier und da Schläge bekamen. Aber sie hatte keine Ahnung vom sexuellen Missbrauch.

Ich sprach es leise aus, flüsterte fast.

Das brachte den Stein ins rollen. Nach ein paar Gesprächen, vielen Tränen und viel Wut, zeigte ich diesen Mann an.

Der Täter

Es dauerte ein Jahr bis es zu einer Anklage kam. Ein weiteres um einen Termin beim Gericht zu bekommen und es wird wohl noch eine ganze Weile mehr dauern. Bis jetzt wurden alle Termine abgesagt, da entweder der Verteidiger krank war oder sich der Angeklagte nicht in der Lage fühlte auszusagen. Wir warten auf einen neuen Termin. Es ist kraftraubend. Und es macht mich sehr wütend. Ich möchte gerne eine Traumatherapie beginnen, dies ist aber nur möglich, wenn der Prozess vorbei ist.

Ich kann mittlerweile besser damit leben. Habe weniger Angst und die Wut ist an manchen Tagen fast weg. Aber es gibt sie, die Nächte in denen ich ihn noch auf mir spüre. In denen ich in die Dusche steige. Es gibt die Momente der Panik und der Hilflosigkeit. Ich bin kein Opfer mehr, aber ab und an schmeißt es mich zurück in die Zeit, in der ich erst 7 war. Und in denen ich morgens eine Milchschnitte zur Belohnung bekam, wenn ich am Abend zuvor nicht geweint habe.

 

Dieser Gastbeitrag stammt von Nadine (24). Ihr findet sie auf Instagram als @_flusi oder auf ihrem Blog Flusisfacetten .

 

Nachwort:

Vielen Dank Nadine für deinen Mut. Du hast meinen größten Respekt dafür, dass Du dich nicht versteckst, sondern anderen Betroffenen Mut machst, zu sprechen. Missbrauch darf einfach kein Tabu bleiben.

Wenn Ihr also Missbrauch in Eurem Umfeld vermutet, selbst wenn diese Vermutung noch so vage ist, schweigt nicht! Sprecht es an. Informiert Euch, auch anonym! Wo ihr das tun könnt, seht ihr im nächsten Abschnitt.

Anlaufstellen und Beratung:

Beratungsstellen in Eurer Nähe findet Ihr zum Beispiel

hier beim Hilfeportal Missbrauch . Die kostenlose anonyme Hotline erreicht Ihr unter 0800-22 55 530 .

Beratung, Therapie und weitere Hilfsangebote für Opfer und Angehörige bietet auch der Weiße Ring.

Präventionsmaßnahmen und Projekte , wie das Projekt „Pfoten weg“, das sexuellem Missbrauch vorbeugen soll, gibt es ebenfalls hier . Die Botschaft: Kinder sollen ihren eigenen Gefühlen vertrauen und sich Hilfe holen, Eltern und Lehrer sollen sensibilisiert werden.

Und nicht zuletzt gibt es auch Hilfsangebote, Beratung und Präventionsangebote bei Dunkelziffer e.V

 

 

 

 

 

21 Kommentare

  • Semra

    Liebe Nadine,
    du hast meinen größten Respekt!! Für deinen Mut, deine Kraft und dein Durchhaltevermögen.
    Mir laufen die Tränen gerade nur so herunter… Ich bin so hass- und wurerfüllt, aber ich weiß auch nicht was schreiben. Mir fehlen die Worte. Man kann es wirklich nicht glauben, aber…
    Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du die Wunden, die die zugefügt wurden, heilen kannst. Auch wenn deine Kindheit nicht zurück kommt, die Zukunft soll all die Schönheiten mit sich bringen, die DU dir wünschst.

    Liebe Grüße,
    Semra

  • Semra

    Liebe Nadine,
    mir laufen gerade die Tränen nur so herunter.
    Du hast meinen größten Respekt! Für deinen Mut, deine Kraft und dein Durchhaltevermögen! Es ist wie aus einem falschen Film und man kann als Leser einer solchen Geschichte nicht glauben, dass das wirklich passiert, aber leider… Es fehlen mir wirklich die richtigen Worte.
    Ich wünsche dir einfach von ganzem Herzen, dass Du die Wunden, die Dir zugefügt wurden heilen kannst. Auch wenn deine Kindheit nicht mehr zurück kommt, die Zukunft soll all die Schönheiten mit sich bringen, die DU Dir wünschst.
    Du hast es bis hier her geschafft, das wirst du auch meistern!

    Liebe Grüße,
    Semra

  • Tami

    Dieses Gefühl. .Ich kenne es. Im Bett zu liegen und die Bilder im Kopf. .Ich hatte damals nicht den Mut meinen Vater anzuzeigen. Nein. Ich hatte angst. War im Schutz-Heim ,weil er mich gewürgt hatte als ich es auf betrunkenen Kopf meiner Mutter erzählte. Nach 10 Jahren misshandlungen.. Jetzt bereue ich es. Den er hatt eine neue Frau und ich habe Angst ,dass sie falls ein Mädchen zur Welt bringt. .Ihr das gleiche bevorsrehr. Ich bewundere deinen Mut. Ich wünsche dir viel Kraft und baldiges Ende. Des Prozesses.

    • Frau Kakao

      Es ist einfach nur schrecklich was Dir passiert ist. Vielleicht findest Du ja noch den Mut. Ich wünsche Dir einfach, dass Du eine Entscheidung trifftst, mit der Du leben kannst.

  • Kathy

    Liebe Nadie… mir ist kotzübel! schöner kann man es nicht ausdrücken! wie wiederlich menschen sein können! unfassbar! und alle die wissen oder ahnen und nicht handeln sind für mich mittäter! ich wünsche dir einen schnellen und gerechten Abschluss der Rechtsgeschichte und hoffe, du kannst irgendwann wieder ohne irgendwelche zwänge und schreckliche Träume leben! Vielen Dank für deine Offenheit !

  • Sarah

    Liebe Nadine, mir laufen die Tränen die Wangen herunter. Ich kann nur erahnen, wie schwer Deine Kindheit war und empfinde ein Wut darüber, dass sie Dir genommen wurde. Dass Du trotz der Hürden immer wieder den Mut gehabt hast, die Wahrheit anzusprechen, verdient größten Respekt! Ich wünsche Dir, dass Du durch einen fairen Gerichtsprozess den Abschluss bekommst, um in Deine Traumtherapie und einen neuen Lebensabschnitt zu starten!
    Unbekannterweise drücke ich Dich.
    Sarah

  • tascha_palim

    Liebe Nadine
    Vielen Dank für deine offenen Worte. Auch ich bin in ähnlichen Schuhen gelaufen. Heute kann ich ganz offen darüber sprechen was mein Onkel und mein Vater mir an getan haben. Ich bewundere deinen Mut und hoffe das du mit diesem Beitrag vielen die Augen öffnest und ermutigst sich zu öffnen. Dieses Thema wird einfach noch viel zu oft tot geschwiegen. Ich wünsche mir für dich das deine Ängste und Sorgen bald vergehen und du das unbeschwerte Leben führen kannst das du Verdienst. Glg Tascha

    • Frau Kakao

      Liebe Tascha, danke für Deinen Kommentar und dafür, dass auch Du hier Deine Stimme erhebt (im übertragenen Sinne). Ich hoffe, Du hast einen Weg gefunden, das Erlebte zu verarbeiten.

  • Alexandra

    Hallo

    Danke das dieses Thema nicht totgeschwiegen wird. Denn oft ( und ich spreche aus Erfahrung ) wird es sogar von den zuständigen Stellen totgeschwiegen. Und einem sind die Hände gebunden. Man ist außenstehend und machtlos. Ich habe erst den weißen Ring und die Polizei „anlügen „ müssen bevor mir jemand half diese Kinder von ihren Peinigern zu befreien. Ich habe mich strafbar machen müssen aber das war es mir wert. Den Kindern geht es heute den Umständen entsprechend gut. Und die Eltern warten auf ihren Prozess ….. immernoch ?. Wenn ihr einen Verdacht habt. Schweigt nicht. Und lasst euch nicht abwimmeln. Nur weil das Jugendamt sagt das die Kinder “ vorbildlich erzogen und gesund sind “ und unverrichteter Dinge wieder geht. Bleibt dran.

    • Frau Kakao

      Ich kenne die Situation nicht, von der Du sprichst aber ich finde es toll, dass Du nicht einfach weggesehen hast. Kinder sind so hilflos.

    • Olaf

      2 Jahre her… seit dem Bericht von ihr und dann wird das öffentlich, was in Lügde geschah… es stockt einem den Atem…. Beweismittel verschwinden, Betreuer wechseln, nichts gesehen, nichts bemerkt. Dann einige Monate später der nächste große „Fall“ mit Bezug zu Lügde… wie hoch ist die Dunkelziffer? Missbrauch in der Kirche und oh ja, das gibt es auch! In Heimen und Vereinen! Geschlecht spielt keine Rolle, egal auf welcher Seite! …und mir wird übel bei dem Gedanken daran.

      Wie reagieren? Wie weiter vorgehen? Es ist eine verfluchte Gradwanderung, doch wenn ein Kind plötzlich auffällig, anders wird, sollten die Ohren offen sein und zuhören können, ohne erstmal vor dem Kind in die eine oder andere Richtung zu werten… einfach zuhören und da sein. Wenn der Verdacht dichter und dichter wird, selektiv handeln und dem Kind UNBEDINGT die Sicherheit auf allen Ebenen geben, nicht verkehrt gemacht zu haben! Es ist gerade innerhalb der Familie ein riesen Problem für das Kind ???

  • Mimiandthethree

    Liebe Nadine,

    Respekt für deinen Mut, so offen darüber zu schreiben. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich deine Geschichte las. Es ist unfassbar grausam. Mir fehlen die Worte. Ich wünsche dir alle Kraft dieser Erde, den Prozess zu überstehen und hoffe, dass du dieses schlimme Kapitel deiner Kindheit verarbeiten kannst. Danke für deine Offenheit! Und danke dir Joanna für dein Engagement bei diesem wichtigen Thema! Alles Liebe, Miriam

    • Frau Kakao

      Vielen lieben Dank für Deine Worte und Dein positives Feedback zu so einem schweren Thema. Das zeigt, dass auch erste Themen durchaus ihren Platz hier haben.

  • Marusha

    Danke dass du das mit uns hier teilst! Du machst uns (mir) Mut, irgendwann mal so viel Kraft und Stärke zu haben, darüber zu reden, egal ob anonym oder öffentlich! Drücke dich ganz fest und Danke nochmal für deine starken Worte!

  • die-kinderherztin

    Liebe Nadine,
    was Du durchgemacht hast, ist unfassbar! Ich bin tief gerührt und haben größten Respekt vor Deinem Mut, darüber zu sprechen. Aber genau das ist soooo wichtig; um zu sensibilisieren und anderen Mut zu machen, es nicht für sich zu behalten, sondern darüber zu sprechen und sich Hilfe zu holen. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass Du es schaffst, dieses schlimme Kapitel Deiner geraubten Kindheit zu verarbeiten. Auch wünsche ich Dir ganz viel Kraft für den anstehenden Prozess! Alles Liebe für Dich,
    Snjezi

  • funnyjulie

    Liebe Nadine… Danke dass du für uns hier deine Gedanken offen gelegt hast. Es lässt einen bloß erahnen wie unfassbar grausam so etwas für ein unschuldiges kleines Kind ist. Es schüttelt mich bei dem Gedanken und mir fehlen die Worte! Ich wünsche dir für deine Zukunft ganz viel Kraft. Courage. Und vor allem ganz viel Liebe! Und Danke Joanna für deine Engagement und den wichtigen ersten Gastbeitrag ❤️ Julie

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